Kulturstudie zeigt Diskrepanz zwischen Führungshandeln und Anforderungen auf
Die Mehrheit der Führungskräfte in Deutschland sieht einen deutlichen Widerspruch zwischen der gelebten Führungspraxis und den heutigen Anforderungen an Führung. Die Kriterien, die ihnen im Kontext von „guter Führung“ wichtig sind, werden nicht einmal zur Hälfte erfüllt. Ihre Kritik an einer aus ihrer Sicht seit Jahren anhaltenden Fehlentwicklung ist groß. Um den eigenen Anspruch an gute Führung umzusetzen, reichen inzwischen kleine Schritte nicht mehr aus: 78 Prozent bringen klar zum Ausdruck, dass die Führungskultur in Deutschland einen Paradigmenwechsel braucht. Das war im Jahr 2014 eines der zentralen Ergebnisse, die eine Studie mit insgesamt 400 Führungskräften zu „Gute Führung“ der nextpractice GmbH, gefördert durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales im Rahmen der Initiative Neue Qualität der Arbeit (INQA), hervorbrachte.
Gelingt ein grundlegender Wandel der Führungskultur in absehbarer Zeit nicht, kann Deutschland auf Dauer sogar den Anschluss verlieren. Ein Blick auf die Bewertung der Vergangenheit verschärft diese Einschätzung noch: Betrachtet man die Entwicklung der Führungspraxis in Relation zu der Entwicklung der Führungsanforderungen seit 1950 aus heutiger Sicht, öffnet sich die Schere zwischen gelebter Führungspraxis und Führungsanforderungen seit Jahren immer stärker. Obwohl noch häufig praktiziert, ist „Steuerung und Regelung“ als Prinzip guter Führung in einer Welt mit zunehmender Komplexität und Dynamik aus Sicht der meisten Führungskräfte zukünftig nicht mehr erfolgreich. Die Volatilität in vielen Geschäftsfeldern und Märkten nimmt zu und die Planbarkeit entsprechend ab.
Traditionelle Managementwerkzeuge wie Zielvereinbarungen und Controlling bieten keine adäquaten Lösungen mehr für die heutigen und zukünftigen Herausforderungen. Das gilt ebenso für Organisationsstrukturen wie die klassische Linienhierarchie: Sie wird klar abgelehnt. Doch was ist die Alternative? Die befragten Führungskräfte beschreiben mit guter Führung etwas, das man als „professionelles Segeln auf Sicht“ bezeichnen kann und was für sie am ehesten in kooperativen Netzwerken möglich ist. Eine kreative Anpassung an sich schnell verändernde Umfeldbedingungen ist dabei ein Kernelement. Orientierung in der Instabilität, Agilität und die Bereitschaft und Fähigkeit, ergebnisoffene Prozesse zu gestalten, werden zu wichtigen Schlüsselkompetenzen.
Analyse der Führungskultur als wertvolle Erkenntnisquelle für zukünftige Entwicklungen
Ziel der Befragung von insgesamt 400 Führungskräften aller Hierarchieebenen aus Unternehmen unterschiedlicher Größen und Branchen war es, ein Verständnis von der in Deutschland herrschenden Führungskultur zu gewinnen und die Wahrnehmung der aktuellen Situation mit den eigentlichen Anforderungen heute und in der Zukunft abzugleichen. Zu diesem Zweck wurden die Führungskräfte mit einem von nextpractice entwickelten Verfahren in rund zweistündigen Tiefeninterviews befragt, um die in Deutschland herrschende Führungskultur zu erfassen, die größtenteils unbewusst das Führungshandeln der Führungskräfte beeinflusst. Die „Kultur“ ist so etwas wie eine Tiefenstruktur. Sie sorgt in Gemeinschaften über gemeinsame Werte, Glaubenssätze, Regeln und Annahmen größtenteils unbewusst für Orientierung im Miteinander und leitet das tagtägliche gemeinschaftliche Handeln.
Um herauszufinden, welche kulturellen Muster im Sinne von Wertvorstellungen die Führungskultur in Deutschland bestimmen, wie bisherige Entwicklungen bewertet und zukünftige Herausforderungen eingeschätzt werden, hat nextpractice in der Studie „Gute Führung“ das speziell für die Erfassung von Kulturmustern entwickelte Interviewverfahren nextexpertizer angewendet. Es verwendet auf der einen Seite ohne thematische Vorgaben ausschließlich die von den Befragten genannten Bewertungskriterien, erfasst aber auch mehrere Hundert schnelle intuitive Zuordnungen der Führungskräfte, um deren unbewusste Bewertungsmuster zu erfassen. Die einzelnen Bewertungsmuster lassen sich mathematisch vergleichen und erlauben eine übergreifende Analyse der darüber sichtbar werdenden gemeinsamen Kulturmuster.
In den Kulturmustern sind sehr frühzeitig Veränderungen in den Präferenzen bzw. Vorlieben der Menschen im jeweiligen Untersuchungsfeld erkennbar und entsprechende Entwicklungstendenzen ableitbar. Denn was unterschwellig an Attraktivität gewinnt, wird zunehmend präferiert – was präferiert wird, löst Handlungen aus und verändert darüber die Wirklichkeit. Vor diesem Hintergrund eröffnen die Ergebnisse der Kulturstudie die Möglichkeit, unser Handeln anhand der identifizierten Kulturmuster zu reflektieren und zu hinterfragen, ob das, was wir im gemeinsamen Handeln hervorbringen auch das ist, was wir wirklich wollen und ob das, auf das wir mit unserem gemeinsamen Handeln hinsteuern, einem mehrheitlich gewünschten Ziel entspricht. Die Studie fördert dazu auch viele wertvolle Anregungen zu Tage, die aus Sicht der Führungskräfte „Gute Führung“ der Zukunft ausmachen.
Flexibilität, Kooperation, Selbstbestimmung und Wertschätzung werden gefordert
Was die Zukunft von Führung konkret beinhalten sollte, um den veränderten Anforderungen gerecht zu werden und in welche Richtung die gemeinsamen Such- und Entwicklungsprozesse laufen müssen, um im gemeinschaftlichen Handeln in Deutschland auch zukünftig erfolgreich zu sein, zeigen die folgenden Kernaussagen aus der Studie (Kruse und Greve 2014):
- Prozesskompetenz ist für alle das aktuell wichtigste Entwicklungsziel.Alle interviewten Führungskräfte halten die Fähigkeit zur professionellen Gestaltung von ergebnisoffenen Prozessen für eine Schlüsselkompetenz. Angesichts instabiler Marktdynamiken, abnehmender Vorhersagbarkeit und überraschender Hypes erscheint ein schrittweises Vortasten erfolgversprechender als die Ausrichtung an Langfristplanungen, deren Verfallsdatum ungewiss ist.
- Selbstorganisierende Netzwerke sind das favorisierte Zukunftsmodell.Die befragten Führungskräfte sind sich mehrheitlich sicher, dass die Organisation in Netzwerken am besten geeignet ist, um die Herausforderungen der modernen Märkte zu bewältigen. Mit der kollektiven Intelligenz selbstorganisierender Netzwerke verbinden sie die Hoffnung auf mehr kreative Impulse, höhere Innovationskraft, Beschleunigung der Prozesse und Verringerung von Komplexität.
- Flexibilität und Diversität sind weitgehend akzeptierte Erfolgsfaktoren.Das Arbeiten in beweglichen Führungsstrukturen, mit individueller Zeiteinteilung und in wechselnden Teamkonstellationen ist aus Sicht der Führungskräfte bereits auf einem guten Weg. Die Idee Unterschiedlichkeit zu fördern, sei in den Unternehmen angekommen und werde bereits umgesetzt. Der Beitrag eines „typisch weiblichen Führungsstils“ zur Führungskultur wird äußerst positiv bewertet.
- Kooperationsfähigkeit hat Vorrang vor alleiniger Renditefixierung.Mehr als die Hälfte der interviewten Führungskräfte geht davon aus, dass traditionelle Wettbewerbsstrategien die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit erreicht haben und das Prinzip Kooperation weiter an Bedeutung gewinnt. Nur noch 29,25 Prozent der Führungskräfte präferieren ein effizienzorientiertes und auf die Maximierung von Profiten ausgerichtetes Management als ihr persönliches Idealbild von Führung.
- Persönliches Coaching ist ein unverzichtbares Werkzeug für Führung.Mit dem Übergang zur Netzwerkorganisation schwindet nach Meinung der Führungskräfte der bislang selbstverständliche Schonraum hierarchischer Strukturen. Eigene Vorstellungen über Anweisungen durchzusetzen sei nicht mehr möglich. Macht entfalten werde nur das, was bei anderen auch auf Resonanz trifft. Daher seien auf Seiten der Führung Einfühlungsvermögen und Einsichtsfähigkeit gefordert. Alle Akteure im Unternehmen bräuchten mehr Reflexion und intensive Entwicklungsbegleitung.
- Motivation wird an Selbstbestimmung und Wertschätzung gekoppelt.Die Befragten gehen davon aus, dass die motivierende Wirkung von Gehalt und anderen materiellen Anreizen tendenziell abnimmt. Persönliches Engagement wird von ihnen mehr mit Wertschätzung, Entscheidungsfreiräumen und Eigenverantwortung assoziiert. Autonomie werde wichtiger als Statussymbole und der wahrgenommene Sinnzusammenhang einer Tätigkeit sei immer bestimmender für den Grad der Einsatzbereitschaft der Menschen.
- Gesellschaftliche Themen rücken in den Fokus der Aufmerksamkeit.Für die befragten Führungskräfte wird die Stakeholder-Perspektive eines Ausgleichs der Ansprüche und Interessen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen wichtiger. Bereits über 15 Prozent der frei genannten Beschreibungen zu guter Führung beziehen sich auf Fragen nach gesellschaftlicher Solidarität und sozialer Verantwortung von Unternehmen.
Die Zukunft von Führung gestalten wir – so oder so
Das kollektive Handeln der Führungskräfte formt die Führungskultur aus und gleichermaßen lenkt die Kultur wiederum unbewusst das Handeln einer jeden Führungskraft. So ist es auch zu erklären, dass die Führungskräfte mit sehr großer Mehrheit in den Tiefeninterviews intuitiv kritisieren, dass die Führungspraxis heute gar nicht den eigentlichen Anforderungen an Führung entspricht und die dringende Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels der Führungskultur zum Ausdruck bringen. „Aber dann kritisieren sie sich ja selbst“, könnte man jetzt denken. Ja, richtig, genau so stellt sich die Situation dar. Ob also die erstrebenswerten Aspekte von „Gute Führung“ Einzug in die Praxis finden werden, liegt an den handelnden Führungskräften selbst. Und so ist es besonders in Zeiten eines grundlegenden Wandels notwendig, die bestehenden Kulturmuster zu hinterfragen, weil diese möglicherweise notwendige Verhaltensänderungen verhindern. Oft braucht es dazu neue Konzepte mit veränderten Werten, Glaubenssätzen, Regeln und Vereinbarungen, um rechtzeitig neue Wege für den Erfolg von morgen einzuschlagen.